24. Dezember 1946. Eine junge Deutsche schreibt fern von ihrem ostpreußischen Zuhause auf einer kahlen Holzpritsche in einer zugigen Baracke unweit von Aktjubinsk ein Weihnachtsgedicht. Gerade hier, jenseits des christlichen Europa, bei minus 40 Grad Außentemperatur, gibt die Geschichte von Jesus und Maria den Verlassenen Trost und Halt. Mehr noch - für Michaela Löwens eröffnet die Weihnachtsgeschichte sogar einen Blick auf die winterliche Schönheit der sie umgebenden endlosen Steppe.
Im März 2003 trat auf der Internationalen Tourismusbörse in Berlin ein Herr auf mich zu und fragte nach einer Landkarte von Kasachstan. Gemeinsam suchten wir nach den Orten Kimpersai und Badamscha. Sie zu finden schien für den Mann wichtig zu sein, er wirkte emotional angespannt. In den folgenden Monaten erfuhr ich, wie die Geschichte von Herrn Alfons Gehrmann mit Kasachstan verwoben ist.
Als Fünfzehnjähriger wurde er im April 1945 gemeinsam mit seiner um ein Jahr älteren Schwester Christel aus Danzig zur Zwangsarbeit verschleppt. In einem Alter, wo andere glückstaumelnd ihre erste Verliebtheit genießen, die Schule abschließen und sich aufs Studium vorbereiten, büßte der Gymnasiast Alfons Gehrmann für etwas, das er nicht verbrochen hatte – für die unvorstellbaren Zerstörungen eines Krieges, der den Osten zum Lebensraum für die Deutschen machen sollte. Fast fünf Jahre lang war die unwirtliche Steppe bei Aktjubinsk nun Lebens- und Leidensraum für mehr als Zweitausend deutsche Zivilinternierte.
Für die Menschen in der Sowjetunion war der Krieg vorbei. Sie hatten schwer zu tragen an seinen Folgen – aber das Wichtigste war: Kein Sohn, kein Ehemann, kein Vater und kein Bruder fiel mehr an der Front. Die deportierten Wolgadeutschen mussten noch immer in den ihnen zugewiesenen Gebieten aushalten, ihr Leben war karg und schwer. Aber es war Frieden.
Doch wer erinnert sich heute noch daran, dass die Schrecken des Krieges damals für Hunderttausende nicht vorbei waren? Wir wissen von den deutschen Kriegsgefangenen, die für ihre Teilnahme an den Kämpfen in zahlreichen Lagern der Alliierten saßen.
Aber über das Schicksal der vielen Zehntausend Zivilisten, die kurz vor dem offiziellen Kriegsende aus den deutschen Ostgebieten verschleppt und in sowjetische Arbeitslager gebracht wurden, ist so gut wie nicht bekannt. Die meisten von ihnen waren Frauen und halbwüchsige Kinder. Wer nicht auf dem Transport zugrunde ging, musste in den Lagern in Sibirien und auf dem Gebiet des heutigen Kasachstan bis zu fünf Jahre lang unter härtesten Bedingungen Strafarbeit zu Reparationszwecken leisten. Der karge Steppenboden bei Aktjubinsk wurde zur letzten Ruhestätte für viele von ihnen.
Unweit des Ortes Badamscha befand sich das Lager Kimpersai. Die an diesem Ort Internierten mussten in den Nickelgruben arbeiten. Tagein, tagaus, auch an Sonntagen – und auch zu Weihnachten. Eine junge Frau schrieb dort, in der Holzbaracke, bei minus 40 Grad, ewig hungrig und zerschlagen von der Arbeit in der Grube, zu Weihnachten 1946 ein Gedicht voller verzweifelter Hoffnung.
Diese Frau lebt heute hochbetagt als Michaela Helemann in Siegen. Ich möchte ihr und allen, die die Schrecken der Lager überlebt haben, von ganzem Herzen Frieden und ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Und uns allen wünsche ich außerdem einen Moment des Innehaltens und des Nachdenkens über all jene, die auch zu Weihnachten so sind, wie Christus in jener Nacht in Bethlehem: vertrieben, arm und schutzlos.
Weihnachten in Kasachstan* - verfasst im Dezember 1946 im Zivilgefangenen-Lager Kimpersai -
Schweigend liegt die Steppe in weißer Einsamkeit, sie trägt eine silberne Schleppe wie eine Königsmaid.
Über ihr wölbt sich der Himmel in ewig wechselnder Pracht, bald rosiger Wölkchen Gewimmel, bald sternenbesät bei Nacht.
Kein Baum, kein Strauch wächst hier oben, Weite, wohin man sieht. Nur ferne, nebelumwoben, von Orsk ein Lichtermeer glüht.
Doch auch in dieser Stille tönt durch die Herzen ein Klang, dringt durch die Eiseshülle Weihnachtslieder Gesang.
Kein Christbaum schmückt unsre Räume, kein Lichtlein am Fenster steht, und tausend sehnsücht´ge Träume der Wind nach Westen weht.
Im Herzen müssen wir schauen die Kerzen, die Tannen so grün, müssen uns Welten erbauen, auf denen die Christrosen blühn.
Christ ist auch uns geboren, die wir verlassen sind. Auch in der Steppe verloren wiegt Maria ihr Kind.
Sie singt ihm mit zärtlichen Worten das Lied, althergebracht. Es klingt uns allerorten: „Stille Nacht, heilige Nacht.“
Michaela Helemann, geb. Löwens
Begegnung mit der vergangenheit.
24.06.2004
Die Zeitreise des Alfons Gehrmann nach Badamscha
Seit seiner Pensionierung sucht Alfons Gehrmann die Erinnerung an seine Zeit im Arbeitslager im kasachstanischen Badamscha heim. Vor zwei Wochen war der Zeitpunkt gekommen, eine Reise in seine Vergangenheit zu unternehmen: Im Gedenken an die unschuldigen Opfer der Deportation brachte Gehrmann nun einen Gedenkstein nach Badamscha, und es kam zu bewegenden Szenen.
Segnung des Gedenksteins Foto: D. Schreiber
Für Alfons Gehrmann ist es eine traurige Begegnung mit der Vergangenheit genau wie für Iwan Scharap. Wir stehen auf der Abraumhalde der Nickel-Grube Wostotschny unweit von Badamscha und blicken hinunter auf ein Trümmerfeld. Der Wind heult uns um die Ohren, er lässt das Federgras anmutig über die Steppe wellen. Es ist der einzige Luxus, den sich diese Gegend leistet. Die langen weißen Blütengrannen sind auch der einzige Grabschmuck auf dem Friedhof draußen vor dem ehemals großen und reichen Dorf.
Alfons Gehrmann ist hierher gekommen, um sich an seine unfrohe Jugend zu erinnern, an die viereinhalb Jahre Schwerstarbeit, die er in verschiedenen Lagern südlich des Ural leisten musste. Als fünfzehnjähriger Gymnasiast wurde er mit vielen anderen Zivilisten aus Danzig nach Kimpersai verschleppt. Heute ist Gehrmann 74, und viele seiner damaligen Mitgefangenen leben nicht mehr. Hunderte blieben hier in der Steppe, namen- und würdelos verscharrt in Massengräbern unweit des Lagers. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. hat für die damals an diesem Ort verstorbenen deutschen Zivilgefangenen im Jahr 2000 einen schlichten Friedhof mit Hochkreuz, kleinen Kreuzgruppen und Grenzsteinen errichtet.
Seit Alfons Gehrmann von diesem Friedhof erfahren hat, verfolgt ihn der Gedanke, hierher zu kommen. Die Überlebenden des Lagers Kimpersai, die sich jedes Jahr in Hannover treffen alle älter als er , haben zum Teil mit Kopfschütteln auf dieses Ansinnen reagiert. Aber Alfons Gehrmann gibt nicht leicht auf. Was ihn nach seiner Entlassung bei der Heimkehr am meisten wurmte, waren die verpassten Bildungschancen. Er hat sich nicht lange mit dem Bedauern dieser Situation aufgehalten, sondern jede freie Minute in Arbeit und Lernen investiert. Bis zum erfolgreichen Senatsrat beim Berliner Senator für Kultur hat er es gebracht. Viel Zeit zum Grübeln über seine verlorene Jugend wird er auf diesem Posten nicht gehabt haben.
Aber nach der Pensionierung müssen ihn die Gedanken an die Zeit von April 1945 bis Oktober 1949 übermächtig heimgesucht haben. Und es fand sich auch ein Anlass für eine Zeitreise. Auf die Gedenktafel am Hochkreuz in der Steppe bei Badamscha hatte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingravieren lassen: Hier ruhen deutsche Kriegsgefangene Opfer des II. Weltkrieges. Dieser Spruch ließ Alfons Gehrmann nicht los. Kriegsgefangene, das sind Soldaten. Wer als Soldat in den Krieg zieht, weiß um die Möglichkeit, in Gefangenschaft zu geraten und muss dieses Risiko tragen. Hierher jedoch wurden Frauen, Kinder und ältere Männer verschleppt, völlig unschuldige Opfer. Muss man für sie nicht andere Worte finden? Haben jene, die hier schuldlos für den faschistischen Größenwahn büßen mussten, nicht wenigstens die Richtigstellung ihres bitteren Schicksals in Worten verdient?
Alfons Gehrmann hat es in fast zwei Jahren geschafft, den Volksbund zur Aufstellung eines granitenen Gedenksteines zu bewegen, auf dem nun steht: Zum Gedenken an die 1945 hierher zur Zwangsarbeit verschleppten deutschen Zivilisten: Männer, Frauen und Kinder. Zur Einweihung des Steines hat er den beschwerlichen Weg Berlin - Almaty - Aktobe - Badamscha auf sich genommen. Er steht jetzt hier in der windigen Steppe und ist aufgeregt. Am Nachmittag wird er vor mehr als 20 Gästen eine Rede am Stein halten. Er wird zwei Blumenkörbe mit Gedenkschleifen aufstellen, einen von den Überlebenden des Lagers und einen vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Man wird die Körbe festbinden müssen, der Wind rast wie toll über die Steppe. Die Erinnerung kommt mit voller Wucht zurück: Genau die gleiche Kraft hatte der Wind auch damals. Und im Winter erst. Es gab eine Nacht, in der zwei Gefangene auf dem Weg zur Latrine im Buran bei 40 Grad minus erfroren sind .
Alfons Gehrmann geht die Reihenfolge der Schritte bei der Einweihung des Steines gedanklich durch: Pfarrer Smereczynski von der Pfarrei "Zum Guten Hirten" wird den Stein segnen. Den Imam der Moschee von Badamscha, Herrn Kurmanbai, hat Alfons Gehrmann auch eingeladen. Alle sollen vertreten sein, egal, welcher Religion sie angehören. Auch das gehört dazu, wenn man sagt: "Nie wieder Krieg!"
Der Rentner Iwan Scharap, bei dem der Reisende in die Vergangenheit übernachtet und der ihn mit seinem Volkswagen durch die Steppe fährt, blickt von der Abraumhalde hinab auf sein ehemaliges Dorf. Hier, genau am Ort des Gefangenenlagers, wurde in den 50er- und 60er-Jahren eine Sowchose errichtet, von der man noch heute sagt, dass sie eine reiche Vorzeigewirtschaft gewesen sei. In den Nickelgruben und in den Viehställen gab es Arbeit im Überfluss. Die Leute zogen in Scharen her, es gab Klubs, ein Kino, eine Musikschule und eine Bibliothek. Bis 1991. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der massenhafte Wegzug von Russen und Kasachstandeutschen änderte alles.
Heute sind noch fünf oder sechs Häuser im Neudorf bewohnt, von den anderen stehen nur noch die Grundmauern. Schrott und Abfall häufen sich überall, Ziegen stolpern über Autowracks und Zaunreste. "Alles hat man zerbombt", sagt Iwan kleinlaut. Er, der 40 Jahre lang Nickelerde im Schwertransporter fuhr, ein kräftiger Mann von Mitte 60, sieht klein aus, als er auf die Vergangenheit herunterblickt. Ob ihn das traurige Schicksal seines Dorfes bedrückt oder die grausame Geschichte des Lagers, auf dessen Grundmauern die Rinder- und Schweine standen, weiß man in diesem Augenblick nicht.
Iwan Scharap war sechs Jahre alt, als die Gefangenen damals in der Steppe ausgeladen wurden. Er kann sich bis heute an die ausgemergelten Gestalten erinnern. Der hintere Waggon war voller Leichen. Als Iwan abends am Küchentisch davon erzählt, schießen Alfons Gehrmann Tränen in die Augen. Die Emotionen, die er während der eigenen Erzählungen mühsam zurückhält, steigen unaufhaltsam in ihm hoch. Auch beim Anhören von Johannas Schicksal sieht man ihm den Kloß im Hals an. Iwans Frau, heute 72, war 12 Jahre alt, als die Deutschen sie und ihre Familie aus ihrem deutsch-polnischen Dorf in der Westukraine zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten. Bei einem Bauern ging es ihr nicht allzu schlecht , bis 1945, als sie von Soldaten der Roten Armee befreit wurden. Johannas Vater, der als russisch-deutscher Dolmetscher gearbeitet hatte, wurde als Vaterlandsverräter eingestuft, die ganze Familie in ein Arbeitslager nach Kostroma deportiert. Erst nachdem Alfons Gehrmann nach Deutschland zurückgekehrt war, wurde Johannas Familie erlaubt, sich in der kasachstanischen Steppe niederzulassen. Die Rückkehr in die Ukraine war ihr verwehrt.
Am Küchentisch von Familie Scharap kreuzen sich die Schicksale. Wir leeren das dritte Glas von Iwans aromatischem Samogon und auch der dritte Trinkspruch handelt vom Frieden. Alfons Gehrmann hebt das Glas, atmet durch und sagt feierlich das Credo des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge: "RABOTA ZA MIR!"